Historischer Verein des Kantons Thurgau

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Eintägige Exkursion 2014 nach Lenzburg

06.09.2014

Nicht nur aus dem Thurgau reisten die 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit öffentlichem und Individualverkehr an, um sich im Café s‘Bärli in der Lenzburger Altstadt für die Exkursion 2014 zu versammeln. Nach dem obligaten Znüni regten die technischen Probleme mit der Funkanlage niemanden mehr wirklich auf, zumal Stadtführer Christoph Moser versprach, seine Führung über die Familie Hünerwadel lautstark durchzuführen. Und so erfuhr die wie immer aufmerksame Zuhörerschaft des Historischen Vereins, dass die Hünerwadel im 17. Jahrhundert aus Schaffhausen ins Städtli unter der Burg gekommen waren, wo sie ideale Voraussetzungen für ihre Geschäfte vorfanden. Zunächst als Landschreiber im Rathaus tätig, begründete die dritte Generation ein Textilhandelsimperium. Christoph Moser brauchte immer wieder grosse Begriffe zur Würdigung der Hünerwadelschen Leistungen, und gross sind auch die beiden Gebäude, die im Zentrum der Führung standen: das Handelshaus der sogenannten Walker-Linie der Hünerwadel einerseits und das Müllerhaus der Bleiche-Linie andererseits. Beide Häuser stammen aus dem 18. Jahrhundert und doch sind sie ganz unterschiedlich. Das mächtige Handelshaus besteht aus einer Kombination zwischen Repräsentationsräumen in den Untergeschossen und dem Lagerplatz unter dem mächtigen Walmdach. Es sollte auch als Beleg für die Kreditwürdigkeit seines Besitzers dienen, was man sich gut vorstellen kann, wenn man es mit den anderen, daneben schmächtig wirkenden Häusern der Lenzburger Altstadt vergleicht. Im 19. Jahrhundert wurde es zum Schulhaus umgenutzt, und zwar für die verschiedensten Schultypen, unter anderem war auch das erste Lehrerseminar des Kantons Aargau unter der Leitung des Seminargründers und „Klostermetzgers“ Augustin Keller hier. Im Lauf der Zeit zog eine Schule um die andere in Neubauten um, einzig die KV Handelsschule blieb am Ort.

Einen ganz anderen Eindruck macht das sog. Müllerhaus, das als klassizistischer Bau keineswegs an eine Mühle erinnert; seinen Namen verdankt es dem letzten Besitzer. Auftraggeber war Gottlieb Hünerwadel-Saxer, der „Roi de soleil de Lenzburg“, gebaut wurde es für sein Baumwollverlagswesen. Und es steht nicht etwa irgendwo, sondern auf dem Schnittpunkt der Handelsstrasse zwischen Bern und Zürich und der Produktionskette der Baumwollverarbeitung durch Heimarbeiter vom Schwarzwald bis in die Zentralschweiz. Das vorbildlich restaurierte Gebäude hat ebenso wie das Handelshaus Lagerräume für die unverarbeitete Baumwolle, doch befinden sich diese hier in den Kellerräumen unter dem dreistöckigen Gebäude. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich auch im Innern des Hauses vom beeindruckenden Erhaltungszustand überzeugen und einen Eindruck von den grossbürgerlichen Wohnverhältnissen des Gottlieb Hünerwadel-Saxer gewinnen. Dort erfuhren sie auch vom Abstieg der Familie, zu dem unglückliche Konstellationen und Schicksalsschläge führten, so dass heute kein Hünerwadel mehr in Lenzburg lebt.

Nach diesen Verhältnissen à la Buddenbrooks bot der Festsaal des Ochsen mit der weiss glänzenden Raumdecke und dem ornamental verzierten Spannteppich ein räumliches Kontrastprogramm. Aber niemand beschwert sich über ein Intérieur, wenn das Essen schmeckt und der Service stimmt. Und genau so war es. Der Aargauer Zwetschgenbraten mit Bohnen und Kartoffeltätschli war gelungen, und diejenigen, die mehr wollten, erhielten Nachschlag, so dass zum Schluss alle mit vollem Magen in Richtung JVA losspazierten.

Die Kontrolle der Ausweise durch den Uniformierten hinter der Panzerglasscheibe, die Präsentation der mitgeführten Gegenstände vor dem Portier, das Verbot von Handys, die verschlossenen Türen, die vergitterten Abschnitte in den Trakten und schliesslich die beengten Verhältnisse in einer 7.5 Quadratmeter grossen Zelle liessen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann aber schnell ihr Wohlbefinden nach dem guten Essen vergessen. Mit dem Eintritt in die Strafanstalt betritt man eine andere Welt mit eigenen Gesetzen. Frau Gautschi, Frau Renggli und Herr Täschler vermittelten uns mit ihren Ausführungen und den Antworten auf die vielen Fragen der Besucher ein differenziertes Bild vom Leben in der Strafanstalt. Aber auch die Anlage selbst ist eindrücklich: Aus dem Zentrum führen 5 Zellentrakte in alle Himmelsrichtungen, im Aussenraum befinden sich Plätze für den Freigang, ein Fussballplatz und die Gebäude der Handwerksbetriebe, der Gärtnerei, Schreinerei, Malerei usw. Um das Gelände herum führt eine 8 Meter hohe Mauer und zwei Zäune. Nach dem Rundgang stellte uns der Verwalter in einem Vortrag dar, wie die Angestellten mit viel Pragmatismus versuchen, den Anforderungen des Gesetzgebers und der Gesellschaft ebenso genüge zu tun wie den Bedürfnissen der Gefangenen.

Als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Anstalt nach zwei Stunden wieder verliessen, nahmen sie starke Eindrücke mit. Und so drehten sich dann die Gespräche beim anschliessenden Zvieri und auf der Rückfahrt verständlicherweise immer wieder um diese Welt, in der man es vermeidet, beim Abschied „Auf Wiedersehen“ zu sagen.

Urban Stäheli

Anmeldung

Die Exkursion hat stattgefunden.