Historischer Verein des Kantons Thurgau

www.hvtg.ch

 

Exkursion 2017 auf den Campus Galli bei Messkirch

09.09.2017

Das Wetter war miserabel. Der Bus – am Steuer Simon Rechberger – trotzdem voll. Und die Stimmung gut. Alle voller Erwartungen. Und da die Ausreise nach Europa und dessen Mittelalter von den Brüsseler Zollorganen keinerlei Behinderung widerfuhr, hielt der Bus auf die Minute genau vor der Bäckerei Neher in Messkirch. Und weil dort schon aufgetischt war und die Buttergipfeli essbereit auf den Tellern warteten, konnte man sich ohne Stress der Verkostung des deutschen Filterkaffees 44 widmen und dem Gespräch über ihn – und wohl auch darüber, was einen ein paar Kilometer nördlich auf dem Campus Galli erwarten würde.
Erwartet wurde man dort zunächst von Verena Oschwald und Sonja Fecht, zwei Damen in Wollgewändern, die ihre Sache in den folgenden zwei Stunden trotz Regens perfekt machten.
Berichterstatter hatte das Projekt, das dort vor Jahren initiiert worden war, bislang immer mit einem von Skepsis bis schierer Ablehnung getragenen Gefühl zur Kenntnis genommen, wie ihm überhaupt jeder Historismus und jede Retrobewegung im Grunde seines Herzens ein Gräuel sind. Aber er gab seine Vorbehalte an dem Tag Schritt für Schritt auf, weil er spürte, dass sich das Ganze doch auch für die Initianten selber im 21. Jahrhundert abspielte und auch der karolingische Linsentopf und die karolingische Wurst sowie der karolingische Met den Errungenschaften der Jahrhunderte seither verpflichtet waren.
Und überhaupt, auch der Rest, jenseits der Verpflegung, war und ist nicht ohne: Wie reflektiert das Unternehmen betrieben wird, wurde auf der Führung nach und nach deutlich. Da sind nicht einfach ein paar Ewiggestrige oder Idylliker am Werk, sondern Leute, die zwar am Mittelalter den Narren gefressen haben, ihr wissenschaftliches Interesse dabei jedoch nicht opfern, im Gegenteil. So geht man nicht einfach auf die schnelle Verwirklichung des St. Galler Klosterplans aus dem 9. Jahrhundert aus, sondern es wird der gesamte voraufgehende Entwicklungsprozess durchexerziert bzw. durchlitten. Am augenfälligsten wird das vielleicht an der Holzkirche, die nach jahrelanger Arbeit eben ihrer Vollendung entgegensieht, nach der Logik der Dinge später aber durch eine Steinkirche ersetzt werden wird. Und so geht es bei hundert und tausend Dingen: von nichts, kommt eben nichts, und Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Die Handwerker, die man bei der Arbeit sieht, lernen permanent hinzu. Ebenso die beiden Ochsen Korbius und Jonathan, die den öchsischen Eigensinn des 9. Jahrhunderts zwar bereits internalisiert haben, jedoch noch immer nicht fähig sind, einen Karren gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen. Mit ihnen sei das auch gar nicht mehr zu erreichen, meine Sonja Fecht, man werde dieses Lernziel gelegentlich mit jüngeren Nachfolgern zu erreichen versuchen. Soweit man Handgriffe, die es auf dem Gelände zu tun gibt, historisch belegt findet, werden sie genau so getan, die sie belegt sind; soweit sie nicht belegt sind, werden sie zunächst ein paar Mal falsch oder unzureichend getan, bis man den Trick heraus hat. So dürfte im Jahr 2018 der dritte Versuch, eine Glocke zu giessen, unternommen werden und hoffentlich von Erfolg gekrönt sein; zweimal war man nahe dran, aber eben nicht ganz. Anderes glückt beim ersten Mal: der Bau einer Friedhofsmauer zum Beispiel oder die Anlegung eines Staketenzauns um Walahfrid Strabos „Hortulus“. Auch wenn abzuwarten bleibt, wie oft die beiden Umfassungen renoviert werden müssen, bis im einen Fall die Obstbäume, die auf den Friedhof zu stehen kommen, Ertrag abwerfen, oder im anderen Fall der Zaun durch eine Mauer ersetzt werden wird, weil die langsam entstehende Klosterstadt von ihrem dörflichen Image weg will.
Das Unternehmen nördlich Messkirch stösst auf viel Interesse, bereits kommen über 60‘000 Gäste, nächstes Jahr sollen es 80‘000 sein. Viele der Jüngeren, die kommen, dürften Jahre später wieder kommen, und dann noch einmal und vielleicht noch einmal, und wenn sie dann als Greise am Rollator ein letztes Mal dort sein werden, dürften sie feststellen, dass ein Leben nicht genügt, die Entwicklung zu verfolgen: für eine Gesellschaft, die Einfamilienhäuser in einem Tag und Mehrfamilienhäuser in fünf Tagen hochzieht eine ungewohnte Erfahrung.
Der St. Galler Klosterplan bildet zwar die Grundlage des Unternehmens, doch kann man ihn aus topographischen und hydrologischen Gründen nicht 1 : 1 umsetzen; ohnehin ist er nur ein Musterplan, an ihm „seine Findigkeit zu üben“ – wie der Abt der Reichenau vor weit über tausend Jahren seinem St. Galler Kollegen schrieb.
Der Campus, obgleich noch relativ leer, bietet den Besucherinnen und Besuchern doch schon viel: wie gesagt eine Holzkirche und eine Stelle, wo Glockenguss geübt wird, eine Friedhofsmauer und ein Kräutergarten. Aber auch eine Drechslerei samt Drechsler, eine Korbflechterei samt Flechterinnen und Flechtern, eine Töpferei samt Töpfern, eine Schmiede mit studentischem Schmied, eine Produktionsstätte für Holznägel samt Naglerin und Nagler, eine Schindelmacherei (die, weil Mittagszeit, grad verwaist war), das Modell einer Scheune, Bienenstöcke und was der Dinge von Anfängen mehr sind. Man kann den Leuten bei der Arbeit zusehen und sie geben, freilich nicht in Althochdeutsch, gerne und kompetent Auskunft. Die arbeits- und versicherungsrechtlichen Vorgaben, beispielsweise Schuhe mit Stahlkappen und anderes, die auch auf dem Bau des 9. Jahrhunderts gelten, sind gut kaschiert, werden aber nicht verschwiegen; ebenso wenig, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn die Tabula ertönt und die Mittagspause beginnt, zum Essen des 21. Jahrhundert schreiten, derweil die Campus-Gäste ausschliesslich Dennele, Linseneintopf, karolingische Würste und Met vorgesetzt bekommen. Das lässt man sich alle paar Jahre gerne gefallen, aber eben nicht jeden Tag.
Wie angetönt: Uhren tragen die Campus-Leute keine, die Tabula, die weithin ertönt, regelt den Lauf des Tages. Die Schar des Historischen Vereins konnte vom Essen aus zuschauen, wie sie geschlagen wird. Dass dann einer der Reisegesellschaft seine eigene Uhr sofort ausser Betrieb setzen würde, war im Programm nicht vorgesehen, aber ein schönes Zeichen dafür, dass auf dem Campus Galli eben doch eigene Gesetze gelten und dass diese Gesetze seine Besucherinnen und Besucher sofort in ihren Bann schlagen.
Nun, die Reiseplanung der Herren Adrian Oettli und Philipp Sauter war dergestalt, dass sie dieses „Aus-der-Zeit-Fallen“ eines Einzelnen problemlos vertrug, und die Käsetorten mit Mohn oder Früchten im „Alten Mesmer“ auf der Reichenau doch noch ohne Stress vertilgt werden konnten. Die anschliessende Fahrt über die Insel im Regen war kurzweilig, der Führer, Raimund Franke, wusste viel und interessant zu berichten, über die fernen Jahrhunderte eines Walahfrid Strabo oder Hermann dem Lahmen ebenso wie über Lustbarkeiten der Gegenwart. Dass man in die Münsterkirche St. Maria und Markus in Mittelzell nur gerade ein paar Minuten, in St. Peter und Paul in Niederzell keinen und in St. Georg in Oberzell ganz und gar keinen Blick werfen durfte, obwohl einem der Speck ante portas gehörig durch den Mund gezogen wurde, war schwer zu verkraften, während die Sicht von der bezaubernden, freilich verregneten Hochwart auch vom Hochsitz im Bus aus einigermassen genossen werden konnte. Trotz der Oberzeller Enttäuschung gelangte die Reisegesellschaft glücklich und zufrieden nach Kreuzlingen, Weinfelden und Frauenfeld zurück.

André Salathé

Anmeldung

Die Exkursion hat stattgefunden.