Historischer Verein des Kantons Thurgau

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Zyklus 2025: Verflochtene Fäden - Thurgauer Textilgeschichte

Veranstaltung 1
Am Mittwochabend, 21. Mai 2025, führte der Historische Verein Thurgau eine eindrückliche Veranstaltung im Depot des Historischen Museums Thurgau durch. Unter dem Titel «Textile Schätze und koloniale Blicke» erhielten die Teilnehmenden spannende Einblicke in aussereuropäische Textilien und deren Weg in Thurgauer Sammlungen. Im Zentrum standen dabei die beiden bedeutendsten Thurgauer Sammler auf diesem Gebiet: Robert Akeret (1886–1972) und Jakob Cunz (1869–1947). Beide waren wohlhabende Textilindustrielle, doch unterschieden sich ihre Sammelstrategien deutlich. Während Akeret lange Zeit im Ausland lebte und auf Märkten in Ländern wie Rumänien oder Regionen des Osmanischen Reichs kunstvoll bestickte Stoffe, Teppiche und Decken erwarb, baute Cunz seine Sammlung vor allem über den florierenden Schweizer Auktionshandel auf. Besonders eindrücklich waren dabei Textilien aus China, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Kleidungsstücken der verarmten Oberschicht gefertigt und für den europäischen Markt als Decken oder Wandbehänge neu verarbeitet wurden. Diese Stücke zeigen typische ostasiatische Symmetrien, leuchtende Farben (oft mit in Deutschland entwickelten Farbstoffen erzielt) sowie zahlreiche Glückssymbole aus dem Buddhismus und Konfuzianismus – darunter Drachen als Kaisersymbole oder Grillen, die für Kraft und Mut stehen. Auch die osmanischen und griechischen Stoffe aus Akerets Sammlung faszinierten: Sie zeichnen sich durch stark stilisierte florale Muster aus, häufig unter Einsatz von Metalldrähten, die kunstvoll auf Papier oder Seidenfäden aufgewickelt wurden. Solche aufwendigen Goldstickereien stammten oft aus Hofmanufakturen. Nicht zuletzt wurde anhand der manipulierten Textilien aus der Sammlung von Jakob Cunz auch die grosse europäische Nachfrage nach «exotischen» Kunstwerken und die damit verbundenen kolonialen Blickwinkel thematisiert. Die Veranstaltung bot so nicht nur Einblicke in prachtvolle textile Kunstwerke, sondern regte auch zur kritischen Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen dieser Sammlungen an.


Veranstaltung 2
Am Mittwoch, 28. Mai 2025, führte der Historische Verein Thurgau eine Spezialführung im einzigartigen Schaudepot St. Katharinental durch. Unter dem Motto «Alles und jedes hatte seinen Wert» erhielten die Besucher:innen faszinierende Einblicke in die ländliche Textil- und Alltagskultur vergangener Jahrhunderte. Die Ausstellung verdeutlichte eindrücklich, welch zentrale Rolle Textilien früher spielten. Bis weit ins 19. Jahrhundert waren Herstellung und Pflege von Textilien fest in weiblicher Hand. Mädchen begannen bereits in jungen Jahren, Flachs für ihre künftige Aussteuer zu verarbeiten – Hemden, Bett- und Tischwäsche gehörten dabei ebenso dazu wie Lumpen für den Haushalt. Ein besonders beeindruckendes Stück ist der Brautschrank einer jungen Frau: Er dokumentiert nicht nur den Fleiss und Ordnungssinn, sondern stand auch für Reinlichkeit und sozialen Status – denn Gott schaute, wie man sagte, auch in den Schrank. Ergänzt wurde dies durch Geschichten über die «Liechtstubete», bei denen Frauen im Winterhalbjahr gemeinsam spannen, um Licht und Brennmaterial zu sparen. Sobald die älteren Frauen zu Bett gingen, erschienen oft junge Männer mit Musik: Aus dem Spinnen wurde so eine Art Partner:innenbörse. Im Alltag galt das Motto «Nichts verschwenden – wiederverwenden»: Aus Stoffresten wurden Finken gefertigt, selbst kleinste Schnitzel fanden beim Abbrand noch Verwendung. Besonders zum Schmunzeln regte eine geflickte Männerunterhose an – ein Beispiel, das zeigt, dass auch solche unscheinbaren Objekte grossen kulturhistorischen Wert haben. Neben der textilen Frauenwelt gab es auch den Bereich der Männerarbeit. So wurde etwa Flachswerg, ein Abfallprodukt der Flachsverarbeitung, bei der Ziegelherstellung eingesetzt – ganz im Sinne einer vollständigen Nutzung aller Ressourcen. Nicht minder imposant war das riesige Prunkfass aus der Kartause Ittingen, das im Erdgeschoss des Schaudepots bewundert werden konnte. Mit einem Fassungsvermögen von 45‘000 Litern diente es nicht nur zur Lagerung von Wein, sondern war mit seinen kunstvoll geschnitzten Elementen ein Marketinginstrument der damaligen Zeit – ähnlich den hübschen Flaschenetiketten von heute. Diese kurzweilige Führung machte auf lebendige Art deutlich, wie tief verwurzelt Sparsamkeit, handwerkliches Können und soziale Rituale in der ländlichen Gesellschaft des Thurgaus waren.


Veranstaltung 3
Am Donnerstag, 5. Juni 2025, lud der Historische Verein Thurgau zu einer besonderen Veranstaltung in die Kantonsbibliothek Thurgau ein. Unter dem Titel «Faden, Fläche, Form – Sonja Lippuner und die Sprache des Materials » erhielten die Besuchenden einen ebenso persönlichen wie faszinierenden Einblick in das künstlerische Schaffen der gebürtigen Thurgauerin. Im moderierten Gespräch erzählte Sonja Lippuner von ihrer Arbeitsweise, die sich zwischen Malerei, Skulptur und Installation bewegt. Ihre Werke entstehen aus einem intensiven Dialog mit den Materialien: Schichten aus Acryl, Spray, Grafit oder Wachskreide überlagern sich auf Trägermaterialien wie industriellem Maschenstoff, Glasscheiben oder Makulaturtapete und entfalten im Raum eine eindrucksvolle, oft grossformatige Präsenz. Dabei werden Fragen nach Raum, Platz und Verhältnis laut: Wer darf sich wie ausbreiten? Wo entsteht Neues, wo wird verdrängt? Die Künstlerin beschrieb ihre Praxis als ein «Bündeln und Sortieren», das weniger Antworten liefere, als vielmehr immer neue Fragen aufwerfe. Sie suche in den Schichten, beobachte Metamorphosen und lasse dabei die Materialien selbst sprechen. So entstehe eine Kunst, die zutiefst körperlich ist – unabhängig davon, ob sie malt, näht, collagiert oder baut. Die Bewegung bleibe stets sichtbar. Ihre Arbeiten befinden sich oft in einem fragmentarischen, provisorischen Zustand, lösen sich wieder auf und fügen sich an anderer Stelle neu zusammen. Für Sonja Lippuner ist dies ein bewusst zugelassener Kontrollverlust, der den Möglichkeitsraum öffnet, in dem sich ihre Kunst immer weiterentwickelt. Die Künstlerin, 1987 im Thurgau geboren und heute in Basel lebend, ist gelernte Steinbildhauerin und schloss 2019 ihren Master of Fine Arts an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel ab. Ihre Werke wurden bereits im Kunsthaus Baselland, in der Kunsthalle Arbon, im Kunstmuseum Thurgau sowie in verschiedenen nationalen und internationalen Projekten gezeigt. Nebst ihrer künstlerischen Tätigkeit engagiert sich Sonja Lippuner stark in der Vermittlungsarbeit, sei es in Basler Primarschulen, Workshops oder im Vorstand des Ausstellungsraums Klingental. Der Abend bot so einen eindrucksvollen Einblick in das Denken und Arbeiten einer Künstlerin, die mit feinem Gespür Material, Raum und gesellschaftliche Fragen miteinander verwebt und daraus eine ebenso kragvolle wie fragile Bildsprache entwickelt.


Veranstaltung 4
Am Dienstag, 10. Juni 2025, ermöglichte der Historische Verein Thurgau seinen Mitgliedern einen exklusiven Blick hinter die Kulissen der traditionsreichen ISA Sallmann AG in Amriswil. Unter dem Titel «Innovation in Strick – Ein Blick hinter die Kulissen der ISA» lernten die Teilnehmenden nicht nur die moderne Produktion, sondern auch die bewegte Geschichte des Unternehmens kennen. Die 1849 gegründete ISA Sallmann AG gehört zu den wenigen Textilunternehmen in der Schweiz, die noch über eine eigene Strickerei verfügen. Damit kann das Unternehmen die Qualität der Stoffe von Anfang an selbst steuern. Rund 90% der Produkte werden im eigenen Betrieb gefertigt; lediglich etwa 10% müssen aufgrund von Kostenstrukturen zugekauft werden. Nach wie vor werden rund 90% des Umsatzes im Heimmarkt Schweiz erzielt, wobei Kartäuser den Hauptabsatzkanal bilden – ein zunehmend schwieriges Geschäft, da immer mehr Warenhäuser verschwinden. Während der Führung erhielten die Besucherinnen und Besucher Einblicke in alle Produktionsschritte: von der Strickerei über den Zuschnitt bis hin zum Lager. Dabei wurde deutlich, wieviel Know-how und Handarbeit trotz industrieller Fertigung in jedem Stück steckt. Die Kollektionen entstehen in einem rund neunmonatigen Prozess, der mit der Trendanalyse beginnt und häufig schon beim Garnhersteller spezifische Stoffvarianten in Auftrag gibt. Gefärbt oder bedruckt wird meist in Portugal, bevor die Stoffe wieder in die Schweiz zurückkehren, wo sie zugeschnitten und weiterverarbeitet werden. Spannend waren auch Einblicke in die Herausforderungen der Branche. So ist ISA durch das sogenannte «Lieferantensterben » selbst betroffen, etwa als der Garnlieferant Schoeller aufgab. Billigkonkurrenz aus Fernost ohne Sicherheits- oder Umweltstandards (Stichwort Temu) setzt die Preise zusätzlich unter Druck. Dennoch kann ISA auf stabile europäische Lieferketten zählen, die sich gerade in der Corona-Zeit bewährt haben. Zudem diversifiziert das Unternehmen: Künftig wird ein Teil der Ausrüstung der Schweizer Armee wieder mit Produkten von ISA
bestückt. Auch setzt man vermehrt auf den eigenen Onlineshop und Markenbotschafter, um neue Kundengruppen zu erreichen. Die Führung bot damit nicht nur spannende technische Einblicke, sondern auch ein anschauliches Bild davon, wie sich ein Schweizer KMU zwischen Tradition und Innovation behauptet – und dabei sowohl auf Qualität als auch auf regionale Wertschöpfung setzt.


Laura Glöckler und Julia Kühni

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